Nichts geht verloren - oder die Geschichte vom wartenden Samenkorn

Vor fast einem Jahr haben wir einen Baum geschenkt bekommen, das heißt besser gesagt Samen für einen Baum, für einen Christbaum. Ja, knapp ein Jahr ist der Becher mit diesem Samenkorn bei uns in der Küche gestanden, eigentlich etwas vernachlässigt muss ich sagen.

Aber vor ein paar Wochen haben wir begonnen ihn zu gießen. Eigentlich waren die Erwartungen nicht so hoch, dass hier je ein Baum erscheinen wird. Aber, vor einigen Tage hat der allererste Baum ganz sanft seine Fühler nach außen gestreckt und er wächst, jeden Tag. Und siehe da, ein paar Tage später haben zwei weitere zarte grüne Zweiglein sich hervorgetraut.

Mich hat das sehr berührt, diese kleinen Zweige auf einmal wie aus dem Nichts erscheinen zu sehen.

Denn ähnlich geht es uns Menschen doch oft. So oft haben wir das Gefühl, nicht weiterzukommen. Unsere Gesellschaft ist davon geprägt, dass alles schnell da sein soll, sehr schnell ein Erfolg sichtbar sein soll. Der kleine grüne Zweig ist hier fast keiner Beachtung mehr wert, wir wollen nur schnell den schönen stattlichen Baum sehen.

Umso weniger Beachtung schenken wir gar dem unsichtbaren Samenkorn. Dieses Samenkorn, welches jeder in sich trägt, oft ganz verborgen. Manchmal haben wir eine Ahnung von seiner Existenz, und wie so oft vergessen wir es aber. Weil es nicht sichtbar ist, weil es nicht so erfolgsversprechend aussieht, weil es eben nicht gleich der große starke Baum ist.

Aber es wartet, im Verborgenen… und dann reicht vielleicht ein kleiner Tropfen Wasser und ein feiner Sonnenstrahl, ein bisschen Anerkennung und Aufmerksamkeit und der Same beginnt zu keimen. Er wird zu dem, wofür er immer gemeint war. Zuerst vielleicht ganz still und leise, vielleicht fällt es uns zu Beginn gar nicht auf. Und dann ist er plötzlich sichtbar, der kleine Zweig, der mutig seine Fühler in diese Welt streckt.

Trotz des Wartens geht der Same nicht verloren. In keinem von uns geht das verloren, was wir tief in uns tragen. Es darf wachsen, es darf warten, und eines Tages dürfen wir staunend beobachten, wie die ersten Triebe sich ausstrecken in dieses Leben.